Amina Abdulkadir, Zürich

Spoken Word-Künstlerin

Fotograf: Stefan Ganz

Sag mir wo die Gletscher sind

Die Slam-Poetin Amina Abdulkadir will mit ihren Texten zum Vorankommen der Gesellschaft beitragen. Die Worte dazu wählt sie mit Bedacht. Denn Amina ist überzeugt: „Wer Sprache öffentlich verwendet, trägt Verantwortung und entscheidet mit, welche Bilder, Themen und Gedanken aufleben.“ Auf den Klimawandel angesprochen, antwortet Amina Abdulkadir mit dem Text „Sag mir wo die Gletscher sind“.

Poetry Slam-Text von Amina Abdulkadir für die Veranstaltung „SAG MIR WO DIE GLETSCHER SIND“, 5. April 2017 mit der 2000-Watt-Region Solothurn

Ich nehm euch bei der Hand, ihr Erzeugnisse der Menschen.

Ich nehm euch bei der Hand, und zeig euch die Tür, denn ihr seid die, die ich schon

lange verwünsche.

Ich nehm euch bei der Hand, ihr Ideologien von verblichenen Jahrhunderten.

Ich nehm euch bei der Hand, und zeig euch die Tür und stell euch zu den anderen

Verwundeten.

Dich, Globalisierung, nehm ich an den kleinen.

Denn so gross dein Gebiet, so klein der Profit für manch einen.

Du, Individualismus, wirst mein zweiter.

Denn im Herzen gefangen, tarnst du dich stets als Befreiter.

Dich, Kapitalismus, nehm ich in die Mitte meiner Hand.

Denn du steckst oft die Güte im Menschen in Brand.

Du, Politik, an den Zeigefinger, komm her!

Denn im Dienste der Menschen stehst du schon lange nicht mehr.

Dich, Presse, klemm ich unter meinem Daumen fest.

Denn du teilst nicht nur den Anfangsbuchstaben mit der Pest.

Ich nehm euch alle bei der Hand,

Ihr Dornen meines Lebens.

Doch erst jetzt erkennt mein Verstand, hinter mir her zieh’ ich euch vergebens.

Eure Last ist mir zu schwer.

Ich bewege mich kein Stück.

Ich wünsch’ euch fort von hier, so sehr.

Doch heute hab ich wieder mal kein Glück.

So wandle ich durch den Tag und sage: „Gäbst du doch mehr von deinem Funkeln.“.

Doch den Tag interessiert’s nicht.

Ich wandle durch die Nacht und sage: „Weg mit deinem Dunkel.“.

Doch die Nacht interessiert’s nicht.

Und ich wandle durch die Menschen und schaue sie mir an, doch jedes Wort bleibt

hängen bevor es meinen Mund durchbricht.

So sehr ich will, es ist mehr als ich kann,

denn es interessiert sie nicht.

Aber nun frag’ ich dich:

Was siehst du, wenn du Eis denkst?

Was hörst du, wenn du Schnee denkst?

Was riechst du, wenn du Sonne denkst?

Was schmeckst du, wenn du Regen denkst?

Was fühlst du, wenn du Wolken denkst?

Ich wandle durch die Stadt und sage: „Weg mit deinem Schmutz.“.

Doch die Stadt interessiert’s nicht.

Ich wandle durch das Land und sage: „Wo bleibt dein Schutz?“.

Doch das Land interessiert’s nicht.

Und ich wandle durch die Menschen und schaue sie mir an,

doch jedes Wort bleibt hängen bevor es meinen Mund durchbricht.

So sehr ich will, es ist mehr als ich kann,

denn es interessiert sie nicht.

Aber nun frag’ ich dich:

Was siehst du, wenn du Wald denkst?

Was hörst du, wenn du Blume denkst?

Was riechst du, wenn du Gras denkst?

Was schmeckst du, wenn du Moos denkst?

Was fühlst du, wenn du Erde denkst?

Ich wandle durch die Realität und sage: „Ich bin fertig mit dir.“.

Doch die Realität interessiert’s nicht.

Ich wandle durch einen Traum und sage: „Wärst du doch immer hier.“.

Doch den Traum interessiert’s nicht.

Und ich wandle durch die Menschen und schaue sie mir an,

doch jedes Wort bleibt hängen bevor es meinen Mund durchbricht.

So sehr ich will, es ist mehr als ich kann,

denn es interessiert sie nicht.

Aber nun frag’ ich dich:

Was siehst du, wenn du Schweiz denkst?

Was hörst du, wenn du Europa denkst?

Was riechst du, wenn du Welt denkst?

Was schmeckst du, wenn du Athmosphäre denkst?

Was fühlst du, wenn du Weltall denkst?

Ich seh’ dich an und hör’ gut hin.

Denn damit fang’ auch ich mal an.

Das ist alles was ich will,

das ist alles was ich kann.

So wandle ich durch die Menschen und schaue sie mir an,

und noch bevor ein einziges Wort meinen Mund durchbricht,

hörst du hin, siehst mich an,

und sagst: „Das interessiert auch mich!“.

Denn es ist Zeit zu handeln

weil er knistert und knackt, der Permafrost

weil sie brodeln und kochen, die Hitzewellen

weil er platzt und schlägt, der Regen

weil sie toben und wüten, die Unwetter

und weil sie schwinden, die Gletscher

Deshalb lass uns sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, was die Natur uns

beizubringen versucht

Und lasst uns handeln

Damit niemand je sagen wird: «Sag mir wo die Gletscher sind»

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